Vom Hühnerstall ins Atelier
Autoreninterview
Lieber Sebastian, in Deinem neuen Bilderbuch „Chick“ sind Hühner die Hauptfiguren, ihre Charakterstudien reflektieren das Thema Gender. Wie bist Du auf diese Tiere und auf dieses Thema gestoßen? Was hat Dich inspiriert, “diese beinahe wahre Geschichte” zu erzählen?
Auf die Tiere bin ich über die Arbeit meiner Frau gestoßen. Sie arbeitet als Naturpädagogin an einer Grundschule in Kreuzberg. Dort gibt es einen Schulgarten mit Bienen und Hühnern. Die meisten Kinder kommen aus Familien mit meist klassischer Rollenverteilung, was sich oft im Verhalten der Kinder widerspiegelt. Auch die Frage, ob mein Buch eines für Mädchen oder für Jungs sei, kommt oft auf, sodass ich mich damit beschäftigen wollte. Hühner waren als Figuren dabei die perfekten Tiere, denn das Geschlecht von Küken festzustellen, ist scheinbar nur direkt nach dem Schlüpfen möglich. Die wahre Begebenheit, auf die sich meine Geschichte stützt, beginnt mit einem Unglück: Der Stadtfuchs hatte alle Hühner der Schule getötet. Meiner Frau kam nun die Idee, neue Hühnerküken von Hand aufzuziehen, damit sie sich schneller an Menschen gewöhnen und keine Angst vor den Kindern haben. Hier kam jetzt die oben geschilderte Tatsache zum Tragen: Wir besorgten uns Küken und gaben ihnen Namen, ohne zu wissen, ob es zu einer Henne oder zu einem Hahn heranwachsen würde. Hühner haben zuweilen auch sehr unterschiedliche Wesen. Die aufrührerische Polly aus unserem Gehege wurde später zum Vorbild für Chick.
Wie kam Chick als Name ins Spiel? Gibt es auch hier eine Geschichte?
In der Schule gab es vor dem Fuchsbesuch einen Wettbewerb, sich Namen für die Hühner auszudenken. Ein Vorschlag für den Hahn war „Bosshuhn”. Ich fand den Namen zunächst toll, weil er so albern war und in mir sofort die Grundidee der Geschichte auslöste. Allerdings hätte dieser Name genau das Klischee erfüllt, dass das männliche Tier die Bossrolle einnimmt. Der Hahn wurde dann Puschel genannt. Geleitet wurde die Gruppe übrigens von Casimira, der Grünlegerin, für die jetzt ein Denkmal im Schulgarten steht. Das Wort „Bosshuhn“ aber blieb in meinem Kopf. Ursprünglich hätte ich diesen gerne als Titel für das Buch genommen, allerdings passte „Chick“ besser. Es ist die englische, geschlechtsneutrale Bezeichnung für Küken. Außerdem ist es eine Anspielung auf Wolfgang Herrndorfs „Tschick“. Hier geht es ebenfalls um Selbstfindung und Männlichkeitsbilder.
Warum hast Du für „Chick“ erneut zu Bleistift und Buntstiften gegriffen? Was zeichnet das Erzählen mit ihnen aus?
Die Geschichte ist dynamisch und muss schnell erzählt werden. Es gibt den einen oder anderen Gag und dafür eignet sich am besten eine „schnelle“ Technik, die etwas Skizzenhaftes ausdrückt. Die Traumsequenzen sind ebenfalls mit Buntstift gezeichnet, allerdings versuchte ich hier bewusst, die klassische Comickolorierung zu imitieren. Die Träume sind ein Bruch in der Erzählung, doch ich wollte nicht obendrein einen Bruch in der Technik, da ich ja schon verschiedene Comicstile zitiere.
In der von Dir illustrierten „Unendlichen Geschichte“ harmonieren opulente Ölbilder mit Bleistiftzeichnungen. Auch in „Chick“ wechselt der künstlerische Ausdruck und Du trittst erstmals als Comiczeichner in Erscheinung: Was bedeutet Dir der Comic als Kunstform? Und was hat es mit den Comic-Sequenzen in „Chick“ auf sich?
Comic als Kunstform ist zumindest in Deutschland immer noch unterbewertet. Dabei gibt es so viele unterschiedliche Arten von Comic. Es ist eine ernstzunehmende, künstlerische Erzählform und zudem Spiegel der Zeit und der Gesellschaft. In „Chick“ deute ich eine Zeitreise durch verschiedene Epochen der Comicgeschichte an. Die erste Sequenz bezieht sich auf die Comicreihe „Little Nemo in Slumberland“ von Winsor McCay aus dem Jahr 1905. Nemo schläft und träumt sich in surreale Welten hinein. Am Ende jeder Seite passiert etwas Schlimmes und er wacht auf. Diese Comics passen sehr gut zu Chick. Einerseits kann ich damit Chicks Bosshuhnfantasien ironisch illustrieren, andererseits kann ich mit ihnen erzählerische Zeitsprünge vollziehen, denn nach jedem Traum ist Chick etwas größer geworden. Im zweiten Traum imitiere ich “Lustiges Taschenbuch“ von Disney. Einerseits sind diese Geschichten voll von Zitaten aus Literatur und Film, andererseits fiel mir beim wiederholten Lesen der Ausgaben, mit welchen ich aufgewachsen bin, auf, wie sehr sie Rollenklischees bedienen. Comicsequenz Nummer drei ist eine Anspielung auf die Superheldencomics aus dem Marvel- oder DC-Universum. Ich habe mir hierzu die Zeichnungen von Jim Aparo zu Batman aus den 1970ern angeschaut. Batman geriet damals sehr in die Kritik, weil Comics angeblich die Jugend verblödeten und weil das Amerika der 1950er und 1960er Jahre eine homoerotische Beziehung zwischen dem Helden und seinem Sidekick mutmaßte. In den Aparo- Comics tritt Batman schließlich als muskulöser, athletischer Held auf, der das Männlichkeitsbild, nicht nur dieser Zeit, prägte. Der vierte Traum ist schließlich eine Anspielung auf den Film „Alien“ von Ridley Scott von 1979, in dem – für diese Zeit in Actionfilmen sehr außergewöhnlich – eine Frau (gespielt von Sigourney Weaver) die Heldenrolle übernahm.
Wie unterschied sich die Arbeit von jener an der „Unendlichen Geschichte“?
„Die unendliche Geschichte“ entstand mit viel Recherchearbeit und in Absprache mit den Erben von Michael Ende. Die Malereien sollten die Fantasie anregen und in Endes Bildwelt hineinlocken. Die Geschichte selbst braucht allerdings nicht zwingend Illustrationen, um erzählt und erlebt zu werden. Bei meinen eigenen Geschichten sind Erzählung, Text und Bild viel enger miteinander verzahnt, da die Bilder etwas erzählen, was nicht im Text steht, aber für die Geschichte wichtig ist. Wenn ich der Autor einer Geschichte bin, kann ich die Erzählung immer verändern oder in andere Bahnen lenken oder Teile der Geschichten einfach nur durch Bilder erzählen lassen.