Sarah Herlofsen im Interview
Liebe Frau Dr. Herlofsen, in Ihrem Kindersachbuch „Wie ist das mit dem Krebs?“ beantworten Sie reale Kinderfragen zu einer Erkrankung, auf die wir noch immer mit großen Berührungsängsten reagieren. Worauf führen Sie „diese Stille, dieses Schweigen“, das auch Cornelia Scheel in ihrem sehr persönlichen Vorwort anführt, zurück?
Eine Krebsdiagnose ist immer ein großer Schock und wird bei den allermeisten Menschen unmittelbar mit dem Tod verbunden. Auch wenn heutzutage die meisten Patienten die Krebserkrankung überwinden oder sie dank der modernen Medizin unter Kontrolle halten können, bedeutet die Therapie und Behandlung eine massive Veränderung für den Familienalltag. Die Angst vor dem Tod, die Angst vor Verlust und vor Veränderung ist oft sehr bedrohlich und ich glaube, es ist eine natürliche Reaktion, dass man im ersten Moment seine Kinder vor diesen schmerzhaften Gefühlen beschützen möchte.
In meiner Arbeit mit diesem Buch ist mir außerdem bewusst geworden, wie viele Fragen nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene zum Krebs haben. Wie soll ich es meinem Kind sagen? Wann ist der richtige Zeitpunkt? Wie kann ich die Krankheit richtig erklären, ohne Angst zu machen? Wie ehrlich muss ich sein? Eltern fühlen oft einen sehr großen Druck, alles richtig zu machen. Manchmal wird dieser Druck, das Richtige zu sagen, so groß, dass sie das erste Gespräch immer wieder aufschieben. Daher habe ich in diesem Buch ein ausführliches Nachwort für Erwachsene angefügt, das helfen soll, diesen ersten Schritt zu wagen und mit Kindern offen über die Krankheit zu sprechen.
Wie kamen Sie an den Punkt, sich für einen offenen Umgang mit dieser Erkrankung einzusetzen, gar ein Kindersachbuch über Krebs zu verfassen?
Als mein Großvater die Diagnose „unheilbarer Krebs“ bekam, war ich selbst sehr erschüttert und unendlich traurig. Kinder haben feine Antennen und meine Jungs haben sofort gemerkt, dass diese Erkrankung etwas anderes war, als alles was sie vorher erlebt hatten. Für mich war es wichtig, offen und ehrlich mit ihnen zu sein und auf alle Fragen zu antworten. So verbrachte ich einen Tag in der Bibliothek auf der Suche nach einem guten Kinderbuch. Ich fand viele Erfahrungsberichte und Erzählungen, aber nichts passte so wirklich zu unserer Situation. Es gab auch kein Buch, das kindgerecht erklärte, was Krebs eigentlich ist. Als Biologin und Philosophin war ich immer begeistert vom „Wunderwerk Körper“, aber auch von den großen Fragen nach dem Sinn des Lebens sowie dem Umgang mit dem Tod in verschiedenen Kulturen. Ich begann, eigene kleine Geschichten für meine Kinder zu schreiben – über die Zellen im Körper, die krank werden, über die Krebsjäger, die versuchen zu helfen. Und ich fing an, mit meinen Kindern über das Leben und den Tod zu diskutieren. Ich sah, wie unendlich tröstlich und hilfreich dieser offene Umgang war, nicht nur für sie, sondern auch für mich selbst. Da entschied ich, meine Erfahrung und mein fachliches Wissen mit anderen Familien zu teilen. Nach der Geburt meines dritten Kindes nutzte ich die Elternzeit, um Kinderfragen zu sammeln und dieses Buches zu schreiben. Es erklärt anschaulich und leicht verständlich die biologischen Hintergründe der Krebserkrankung und verbindet diese mit Antworten auf philosophische und emotionale Fragen der Familien.
Stellen Kinder andere Fragen als erwachsene Menschen? Und ist vielleicht ihr Umgang ein anderer?
Für dieses Buch habe ich mit vielen Familien gesprochen und ihre persönlichen Fragen gesammelt. Während die Erwachsenen eher nach fachlichen und theoretischen Dingen fragten, waren die Kinderfragen oft sehr direkt und eher praktisch orientiert. Nehmen wir als Beispiel das Thema Tod, welches für viele besonders schwierig ist. Während die Erwachsenen nach Überlebensstatistiken fragten, beschäftigten die Kinder ganz konkrete Bilder: Wie ist das, wenn man stirbt? Tut das weh? Kann man die anderen immer noch hören? Ist es kalt, wenn man im Grab liegt und bekommt man nicht schrecklichen Hunger dort unten? Ich werde nie vergessen, wie mein Sohn mich bei der Beerdigung meiner Großmutter fragte, ob sie jetzt wieder aus dem Boden wächst, weil wir ja die Blumen auf ihrem Grab gegossen haben. Kinder haben oft noch ganz fantastische Bilder im Kopf und ich glaube, wenn wir Erwachsenen uns darauf einlassen, können sie uns viel Trost schenken und uns vielleicht in unserer Trauer sogar zum Schmunzeln bringen.
Sie erklären die hoch komplexe Zellerkrankung fachlich genau und dennoch kindnah in verständlichen Bildern. Ich denke zum Beispiel an das Unkraut im Garten, das Blumen zum Welken und nach dem Jäten wieder zum Blühen bringt. Mit den Krebszellen verhält es sich ebenso. Sie müssen entfernt werden, damit der Körper gesunden kann. – Wie kamen Sie zu Ihren Vergleichen, die immer auch von Hoffnung und Zuversicht erzählen?
Einstein sagte einmal: „Wenn du es nicht einfach erklären kannst, dann hast du es nicht gut genug verstanden.“ Nach diesem Motto habe ich gezielt nach Bildern gesucht, die Kinder aus ihrem Alltag kennen, um ihnen einfach und anschaulich zu erklären, was in unserem Körper passiert. So werden Zellen zu kleinen Bausteinen und der Körper zu einem Puzzlespiel, in dem alle Teile zusammenpassen müssen. Im Unkraut-Beispiel, das Sie erwähnen, geht es mir vor allem darum, dass Krebszellen eben nicht böse sind. Ich habe mit einem Jungen gesprochen, der unendliche Angst und Albträume hatte, weil er sich vorstellte, die bösen Zellen im Körper seiner Mutter seien ein Monster, das sie von Innen her auffressen wolle. Solchen Kinderbildern versuche ich mit meinen Bildern aus der Realität entgegenzuwirken. Krebszellen sind krank und wachsen wild und schnell, aber nicht um böswillig den Körper zu zerstören. Niemand würde behaupten, der Löwenzahn im Vorgarten sei böse, weil er den schönen Rasen zerstört. Aber wir müssen ihn entfernen, weil er sich sonst ausbreitet. So ist es mit den Krebszellen. Sie müssen aus dem Körper entfernt werden, weil sie ihm schaden. Aber sie sind krank und keinesfalls ein böses, hungriges Monster. Um diesen Kinderfantasien die Nahrung zu nehmen, suchte ich nach zuversichtlichen und hoffnungsvollen Bildern.
Sie weichen in Ihrem Buch dennoch vor Fragen nicht zurück, die kaum oder nur sehr schwer zu beantworten sind: „Warum bin ausgerechnet ich krank geworden?“ Oder: „Kann man an Krebs sterben?“ – Wie war es möglich, ehrlich zu antworten und gleichzeitig keinen Raum für Ängste zu schaffen?
Kindern ist es so unendlich wichtig, gesehen und ernstgenommen zu werden. Manchmal sind ihre Fragen kaum zu beantworten. Oder auf eine Frage gibt es mehrere Antworten, die alle auf ihre Weise richtig sein können. Manche Fragen klingen für uns Erwachsene vielleicht absurd, aber den Kindern ist es sehr ernst damit und es ist wichtig, mit ihnen über ihre Fantasien und Ängste zu sprechen. Ich glaube, dass Ängste vor allem auftreten, wenn wir versuchen, die Kinder zu schonen und ihnen ausweichen. Auf die Frage: „Was passiert eigentlich mit Oma, wenn sie stirbt?“ können wir die Kinder vertrösten mit einem gut gemeinten „Mach dir keine Sorgen, Oma wird bestimmt wieder gesund.“ Das Kind wird trotzdem unsere Sorgen und Traurigkeit spüren und sich vielleicht ausgeschlossen und allein fühlen. Wenn wir uns auf die Frage einlassen, können wir zum Beispiel erklären, dass alle Menschen irgendwann sterben und dass es viele verschiedene Theorien über den Tod gibt. Auch die Antwort: „Ich weiß es nicht. Was glaubst denn du, was mit Oma passiert?“ kann der Anfang eines wunderbaren und heilsamen Gespräches sein. Ich finde es wichtig, auch den Erwachsenen den Druck zu nehmen, dass wir auf alles eine richtige Antwort wissen. In diesem Sinne habe ich versucht, auf die gesammelten Fragen persönlich und ehrlich zu antworten, als kämen sie von meinen eigenen Kindern. Ich hoffe, mit diesen Antworten diese Räume zu füllen, in denen sonst Ängste entstehen können.
Kann das Wissen um die Erkrankung Krebs etwas Tröstliches mit sich bringen?
Diese Frage ist schwierig zu beantworten, weil es nichts Tröstliches mit Krebs in einer Familie gibt. Ich denke, dass es auf jeden Fall viel einfacher ist, mit der Erkrankung umzugehen, wenn man seine Gedanken, Gefühle, Ängste und Hoffnungen miteinander teilen kann. Das Schweigen und Unwissen kann oft zu einer unerträglichen Last werden, die die Familienmitglieder voneinander entfernt.
Für den Erkrankten ist es oft unendlich wichtig, sich im Kreise seiner Angehörigen geborgen und sicher zu fühlen. Wenn man offen über die Krankheit spricht, gibt man dem Kranken Raum, ehrlich zu sagen wie es ihm geht und was er braucht. So zu tun als wäre alles in Ordnung oder als hätte man keine Angst vor dem eigenen Tod, ist kaum auszuhalten und das sollte niemand von einem Patienten verlangen.
Eine unheilbare Krebserkrankung in der Familie ist immer furchtbar und ich möchte die Krankheit nicht schönreden. Tatsächlich machen viele Patienten und Angehörige auch positive Erfahrungen durch die Krankheit. Viele Familien kommen sich durch diese gemeinsame Herausforderung näher. Man weiß alltägliche Dinge mehr zu schätzen und lernt, die kleinen Augenblicke zu genießen. Erinnerungen werden intensiver und Glücksmomente unvergesslich.